Nach jahrelangem Werben mit einem der schönsten Punkte Mitteleuropas, dem West-„Winkel“ des Wolfgang- oder Abersees im salzburgisch/oberösterreichischen Salzkammergut, gelang es dort heuer, eine besonders ansehnliche Gruppe – nach Anzahl, Alter, Ausbildungszweigen, Lebenserfahrung und Bewahrung bündischer Lebensart – zu vereinen.
Überraschenderweise fanden Mitte Oktober alle diese Zugvögel einen Platz an einer großen Tafel am Wolfgangsee. Durch die Fenster eines der beiden Erker hinaus bot sich der Blick auf den besonnt-spiegelnden See vor den fernblauen, bis auf über 2000 Meter aufragenden Bergen.
Zum Frühstück am Freitag entstiegen die einen aus dem jeweiligen warmen Pfuhl oder zerstrampelten Federbett – einer sogar aus dem trinkwasserklaren frischen See … Den Reigen der thematisch weit gespannten Vorträge und Diskussionen wurde eröffnet mit der Erläuterung wesentlicher Gedankengänge des fast vergessenen kommunistischen Vordenkers und Philosophen Nikolai Alexandrowitsch Berdjajew (1874 geboren in Obuchowo bei Kiew – 1948 verstorben in Clarmart bei Paris). Dieser stand gegen die feudale russische Gesellschaftsordnung auf und wanderte umgehend für drei Jahre in die Verbannung. Zurückgekehrt setzte er sich weiter mit dem Marxismus auseinander, bis er Neukantianer wurde und nun Lenin kritisierte. 1919 begründete Berdjajew auf der Suche nach einem Bindeglied zwischen Orthodoxie und Marxismus die „Freie Akademie für Geisteskultur“ in Moskau.
1922 wurde er aus der UdSSR ausgewiesen, ging nach Berlin, traf u.a. mit Oswald Spengler zusammen und gründete die „Religionsphilosophische Akademie“. Besonders die Hervorhebung der schöpferischen Freiheit beim sich Einrichten in der Realität der Natur dürfte die Jugend der damaligen Aufbruchszeit (Stichwort Hoher Meißner 1913) angesprochen und fortgewirkt haben. Berdjajews Kritik am Bürgertum und der technologiegläubigen modernen Zivilisation ganz allgemein hat er mit dem Wandervogel, der Lebensreformbewegung, der Bündischen Jugend und den Akademischen Gilden, aber zum Beispiel auch mit der „Weißen Rose“ gemeinsam. Der Mensch befinde sich im Spannungsfeld zwischen den Vorgaben von Materie, Natur und Technik und der über alles anzustrebenden Freiheit des Geistes, so sein Credo.
Dafür machte sich Berdjajew auf allen Seiten Feinde: Die russischen Kommunisten lehnten seine freiheitlichen Ansätze ab und brandmarkten ihn als „liberalen Überläufer“ (Lenin). Aber auch die römisch-katholische Kirche, auf streng-antikommunistischem Kurs, wandte sich strikt gegen ihn, da er sich tolerant nicht nur gegenüber der Orthodoxie zeigte, sondern gegenüber alle möglichen Kirchenorganisationen und auch Landeskirchen. Der Nationalsozialismus – in Vorbereitung auf seine weltumspannende Auseinandersetzung mit dem „Bolschewismus“ – stufte Berdjajews Denken als gefährlich probolschewistisch ein und verbot kurzerhand dessen Werke.
Nach 1945 war der Philosoph Berdjajew fast vergessen. Erst um 1990 lockerte sich auch im Osten (vorübergehend) die ideologische Verkrampfung und ermöglichte die Wiederbeschäftigung mit dessen Persönlichkeit und Ideen.
Hat unsere Gemeinschaft einen treffenden Wahlspruch, wurde anknüpfend an die Ausführungen gefragt – und daraus der Vorschlag formuliert: „Freiheit – Persönlichkeit – Schöpfertum“. Alternativ wurde für „Freiheit – Charakter – Innovation“ plädiert. Daraus entspann sich eine angeregte Wechselrede.
Am nächsten Morgen erfolgte ein Vortrag zum Thema Wasserversorgung und nachhaltige Wasserwirtschaft. Dieser stellte und beantwortete eine Reihe von Fragen: Was ist der Mindestbedarf an Wasser? Was bedeutet die Forderung nach jederzeitigem Zugang für alle? Wie geht Bedarfsmessung? Was sind potentielle Schadstoffe – und in welcher Dosierung?
Die Menge an nun folgenden Informationen hat den Berichterstatter (und nicht nur diesen) schwer beeindruckt, aber zugegebenermaßen auch überfordert. Der Vortrag war ein völlig unaufgeregtes, aber beeindruckendes Erlebnis und alles andere als „trockene“ Wissenschaft! Doch auflockerndes Tellerklappern hob schlussendlich den allgemeinen Bann der Nachdenklichkeit auf und erinnerte an das bis dato nur schlummernde Hungergefühl.
In Vorfreude auf unseren nächsten Vortrag brach gegen Abend eine übermütige Welle passender Wandervogellieder los. Im nächsten Vortrag wurde nun in wirkungsvoll-offiziellen Bildern und noch eindrucksvolleren persönlichen Erinnerungen aus der Zeit von 2005 bis 2023 Sankt Petersburg vorgestellt – von Peter dem Großen und Zarin Katharina II. bis zum Sturm auf das Winterpalais am 7. November 1917, der 872-tägigen Belagerung durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg bis zu den Spekulationen um den Verbleib des Bernsteinzimmers und schließlich die Folgen des Ukrainekrieges unserer Tage.
Der letzte gemeinsame Morgen versammelte wieder alle an der großen Frühstückstafel. Müde vom vielen Sitzen, Zuhören und Mitdenken sollte der Ausklang eines wunderbaren Wochenendes im Sinne der Ganzheitlichkeit unter den Vorzeichen von Gemütlichkeit, Entspannung und aufkommender Vorfreude auf das nächste Treffen der österreichischen Gildenschafter stehen.